Ein Stück Heimweg
Uffff, das war geschafft. Endlich raus aus der Hütte. Die Hütte war ein Bürohochhaus, Teil eines modernen Komplexes für tausende Bürosklaven im Berliner Norden. Aus dem im ersten Stock befindlichen Großraumbüro für ca. 25 Mitarbeiter und einen getrennt sitzenden Chef, war sie mit schnellen Schritten heruntergetrippelt. Durch die Glastür konnte sie schon den vollständig grauen Himmel und die Pfützen auf den Wegen sehen. Zum Glück hatte der Regen aufgehört. Bis zur U-Bahn war es nur ein kleines Stück, zwanzig Meter bis zur Hauptstraße, entlang dieser dann fünfzig Meter bis zur Kreuzung, an der sich der unterirdische Bahnhof befand.
Leider mußte sie aber die Straße überqueren und diese war ständig voller vibrierender, stinkender Autos, meist nur mit einer Person besetzt. Natürlich konnte man auch an der Ampel rübergehen, aber das kostete Zeit. Das war nur effektiv, wenn die Ampel beim Erspähen auf Rot zeigte, so dass die Grünphase noch schaffbar war.
Heute nun geriet ihr aber nicht die Ampel ins Visier sondern ein älteres Pärchen. Es war sogar ziemlich alt, der Gang mühsam und schleppend. Die Frau war klein und schmächtig, mit schulterlangen grauen Haaren, der Mann nur wenig größer, max. 1,65 m und nicht gerade der Kräftigste. In der Mitte zwischen den beiden schwankte ein Katzenkorb hin und her, die Frau hatte diesen mit rechts ergriffen, ihr Mann hielt am selben Griff mit der linken Hand fest.
Aha, eine kranke Katze, die zum Tierarzt muss, dachte sie und gleich darauf kam ihr wie ein Blitz der Gedanke, dass sie den alten Leuten Tragen helfen müsste. Dieser wurde aber sofort wieder verworfen, denn bis zur Abfahrt ihrer U-Bahn war nur noch wenig Zeit. Da die Alten den Korb gerade abstellten, kam es ihr nicht passend vor in ihrer Eile Hilfe anzubieten, mit ihren schnellen Schritten hätte es wohl eher wie eine Katzenentführung ausgesehen. Also lief sie im Rücken der betagten Leute Richtung Straße und überquerte diese. Der Fluss der Blechkolonne war gerade zum Stehen gekommen. Lächelnd lief sie durch die Autos und hoffte, dass die Fahrer dieses bemerkten und honorierten. Der Plan ging auf und im Nu erreichte sie den Gehweg, die rettende Insel im großen Verkehrsgewühl. Noch dreißig Schritte, dann begann die Öffnung des grauen Schlundes, der täglich Menschenmassen aufnahm und ausspukte.
Nach dem ersten Abschnitt der Treppe vergrößerte sich der unterirdische Raum stark, um den von links kommenden langen Tunnel des westlichen Eingangs einzugliedern. Noch achtzehn Stufen, dann stand sie unten auf dem Bahnsteig und versuchte mit zusammengekniffenen Augen die Anzeige auf der elektronischen Tafel zu erkennen. In drei Minuten sollte die Bahn kommen. Ein leiser Zweifel kam hoch, ob sie sich richtig entschieden hatte, nicht zu helfen, aber der wurde abgewürgt. Was hätte dieses kurze Stück schon genutzt, wer weiß, wo die alten Leute mit ihrer Katze hinwollten. Plötzlich hörte sie eine hohe Stimme, wie von einem Kind oder einem sehr jungen Mädchen. „Wir hätten so bequem mit dem Bus fahren können, aber was tun wir, wir plagen uns ab und nehmen den weiten Weg zur U-Bahn. Ich glaube, das wolltest du nur, um am Siegfried-Platz Fahrstuhl fahren zu können. Stimmt das? Gib es doch zu!“ Schon waren sie an ihr vorbeigezogen, der Katzenkorb hing schief, auf der tief hängenden Seite lag die für die Alten zu schwere Katze. Durch die Schlitze des Korbes versuchte sie die Farbe der Katze zu erspähen, aber nur ein dunkler Schatten war auszumachen. Die Anzeige begann zu blinken und kündigte die Einfahrt der U-Bahn innerhalb der nächsten Sekunden an. Schon war das Gespann auf Höhe des dritten Wagens und man sah, das es hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, den schweren Korb abzustellen und der Aufgabe, noch durchzuhalten, bis der herannahende Zug zum Stillstand kommen würde, um zügig in diesen einzusteigen. Der Korb ruckelte hoch und runter, berührte aber nicht den Boden und die einfahrende gelbe Bahn verschluckte die Worte der erregten alten Dame. Wie gewohnt stieg sie in den ersten Wagen, um sicher zu gehen, die Anschlussbahn am Bahnhof Freiheitsbrücke zu erreichen. Die zwei mit ihrer Katze waren weiter hinten eingestiegen. Nun konnte sie das gealterte Paar mit ihrer Katze nicht mehr sehen. Irgendwie war sie traurig, konnte ihr Buch nicht gleich zur Hand nehmen. So starrte sie aus dem Fenster als der Zug nach kurzer Fahrt den Schienentunnel verließ und das graue Tageslicht sichtbar wurde. Erst als die Bahn kurz vor dem Siegfried-Platz wieder hinabtauchte, griff sie zu ihrem Buch und begann ohne große Aufmerksamkeit zu lesen.