Die Krötenwanderung
Es war Ende September und als sie am frühen Morgen mit dem Auto losfuhr, war es noch dunkel. Trotzdem wollte sie ihren kleinen Fiat in M. nicht auf dem großen, an der Ortsverbindungsstraße gelegenen Parkplatz abstellen. Abends, wenn sie von der Arbeit zurückkäme, würde es noch hell sein und das war entscheidend, um in der ruhigen, abseits gelegenen Straße mit den großen Bäumen zu parken. Dort kannte sie jedes Grundstück und jedes Haus und ab und zu wechselte sie mit den Anwohnern das eine oder andere Wort, bevor sie den Heimweg mit dem Auto fortsetzte. Meistens kam sie dort in Hochstimmung an, denn auf dem Spaziergang von der S-Bahn bis zu ihrem Parkplatz, konnte sie sich wunderbar von der Büroarbeit und der manchmal nervenaufreibenden, von Unterbrechungen bedrohten Fahrt mit U- und S-Bahn erholen, während sie die gepflegten Vorgärten und die alten, charaktervollen Villen betrachtete. Jeden Tag aufs Neue fühlte sie sich für ein paar Minuten wie im Urlaub. Bis Anfang Oktober wollte sie noch ihren Parkplatz in der stillen Straße nutzen. Erst wenn es abends stockdunkel wäre, würde sie wieder für das Winterhalbjahr auf den sicheren, großen Parkplatz an der lärmenden Straße zurückkehren.
In M. angekommen, freute sie sich, dass sogar ihr Lieblingsplatz direkt hinter der Grundstücksausfahrt mit dem weißen Flachbau in der Nähe einer Laterne noch frei war. Sie stellte den Motor ab, legte den ersten Gang ein und nahm im Aussteigen die Handtasche und den Stoffbeutel mit dem Buch für die Bahnfahrt heraus. Ein Klicken sagte ihr, dass das Auto ordentlich verschlossen war, trotzdem zog sie noch einmal am Türgriff. Als der Autoschlüssel in der Handtasche verstaut war, setzte sie sich langsam in Bewegung. Ein kleines, zeitliches Puffer von zwei, drei Minuten hatte sie noch für den Fußweg zur S-Bahn.
Beim Wechseln auf die andere Straßenseite fiel ihr Blick auf einen dunklen Fleck, der sich sehr langsam von einer Straßenseite auf die andere bewegte. Aus etwa fünf Metern Entfernung erkannte sie eine ausgewachsene Kröte, es war ein ordentliches Exemplar, größer als jene, die in ihrem Garten lebten und sich nur sehr selten zeigten. Schon fiel ihr Schatten auf die Erdkröte, welche der gleichen Straßenseite zustrebte wie sie. Im selben Moment erstarrte die Kröte, mitten in der Bewegung und nun in der Mitte der rechten Straßenseite wie angeklebt sitzend.
Sie war stehen geblieben und hoffte, dass die Kröte vor Eintreffen des nächsten Fahrzeugs die Straße verlassen würde. Aber diese machte keinerlei Anstalten, ihren Weg fortzusetzen.
In der Ferne sah sie Scheinwerfer, aber das erste und das zweite Auto bogen ab in die Querstraße. Sie atmete auf und überlegte, wie sie die Kröte von der Straße bekam. Anfassen käme nicht in Frage, da war sie sich sicher, einen Stock, der in ihren Gesichtskreis geriet, hielt sie für ungeeignet, denn sie befürchtete die Kröte damit verletzen zu können. Auch eine alte Zeitung fiel aus, die sah wenig vertrauenserweckend aus. Während sie noch nachdachte, kamen Lichter von rechts auf sie zu, ein relativ langsam fahrendes Auto.
Sie stellte sich genau auf Höhe der Kröte, riss ihren weißen Bücherbeutel hoch und schwenkte diesen. „Hier sitzt eine Kröte, bitte nicht überfahren“ rief sie, wohl wissend, dass die Fahrerin sie nicht hören konnte. Die Dame hinter dem Lenkrad zog links hinüber und an ihr und an der Kröte vorbei. „Lauf endlich, du dumme Kröte“ schrie sie diese an und ein Schleier legt sich vor ihre Augen. In dem Moment hopste die Kröte träge weiter und nach drei Hopsern erreichte diese den sandigen Straßenrand.
Sie schnaufte und schaute auf die Uhr. Höchstens drei Minuten waren vergangen, seit sie ihr Auto verlassen hatte. Nun musste sie aber spätestens loslaufen zur Bahn. Beim Gehen merkte sie, wie ihr Herz noch raste, aber an der nächsten Ecke war sie ruhig und hoffnungsvoll wie gewohnt. Beim Anblick der betagten Eckvilla mit den bunten Glasfenstern und den Reliefs an den Wänden sowie der steinernen Terrasse, die zum Garten raus lag, fragte sie sich wie so oft, wer in diesem schönen alten Haus wohl wohnen möge.
Sylvia Mielecke