Die Blumenmalerinnen vom schönsten Ort der Welt
Der Winter 2017/2018 war ungewöhnlich, zunächst zu mild mit viel Regen und zum Ende folgte eine extreme Kältewelle. Nach mehreren Jahren Pause wurde ich wieder einmal krank und musste vier Stunden beim Arzt sitzen. Man hatte mich vergessen, was durchaus vorkommen kann. Aber sich dafür nicht zu entschuldigen, nahm ich persönlich. Mit dem Arzt überwarf ich mich, was hier aber nichts zur Sache tut. Ein kleines Büchlein – Der schönste Ort der Welt – Von Menschen und Buchhandlungen – hatte mich für diese vier Stunden gefesselt. Berühmte Autoren wie George Orwell, Patricia Highsmith, Gustave Flaubert und Ingrid Noll schwärmten auf ganz eigene Art von besonderen Erlebnissen und kauzigen Typen in Buchhandlungen.
Ich war eigentlich durch und durch ein Bibliotheken-Leser. Bereits mit fünf Jahren nahm unsere Mutter mich mit in die damalige Schulbibliothek. Das Lesen hatte ich während der Übungsstunden meiner ein Jahr älteren Schwester so ganz nebenbei gelernt. Von Anfang an liebte ich die leise und ruhige Atmosphäre in den über und über mit Büchern gefüllten Räumen. Die Verheißung in fremde Welten einzutauchen, bewirkte immer ein wenig Bauchgrummeln bei mir. Voller Stolz trug ich die papiernen Schätze in meiner Tasche nach Hause. Aus der Schul- wurde die Stadtteilbibliothek, später die Hochschulbibliothek, danach die Stadtbezirksbibliothek. Gerade in den kostenintensiven Jahren des Hausbaus und der Ausbildung unserer Tochter kam mir das Bücher ausleihen sehr entgegen.
Natürlich konnte ich nicht widerstehen bei bestimmten Lieblingsautoren wie Ingrid Noll, Conni Palmen, Martin Walser, Andrea Camilleri oder T.C. Boyle, das eine oder andere Werk käuflich zu erwerben. Diese Bücher erweiterten meine kleine Bibliothek so nach und nach. Es machte mir nichts aus, ein Mängelexemplar aus dem Zeitungsladen im Bahnhof Friedrichstrasse zu erwerben. Gelesen und im Bücherschrank stehend, war nichts von dem Makel zu erkennen. Ab und zu beschenkte ich mich selber mit Kunstbüchern zum Thema Malerei. Die Malerei ist meine zweite Leidenschaft und meine Familie beschenkte mich ebenso mit hervorragenden und teuren Kunstbüchern, die ich mir selber nicht geleistet hätte.
Jahrelang führte mein Arbeitsweg aus dem Berliner Osten über das Zentrum in den Nordwesten Berlins, nach Reinickendorf. Zum Feierabend ging es retour, von der U-Bahn kommend stieg ich am Bahnhof Friedrichstraße in die S-Bahn Richtung Strausberg.
Riesengroß war meine Freude und Überraschung, als eines Tages gleich neben dem Bahnhof Friedrichstrasse ein Buchladen namens Jokers eröffnete. So etwas kannte ich noch nicht, auf relativ kleiner Fläche wurden Romane, Krimis, Ratgeber, Kinderbücher, Bestseller und vor allem Kunst- und Interieurbücher angeboten. Immer wurde etwas Neues ausgepackt, ständig war das Geschäft übervoll mit Menschen, Pendlern wie mir, Touristen, Studenten oder Schülern. Bücher, die nicht den reißenden Absatz fanden; oft waren es Kunstbücher, wurden ermäßigt angeboten bzw. wurden nach einer Weile herabgesetzt. Diese behielt ich besonders im Auge. Der Jokers gefiel mir ausnehmend gut und ich freute mich, wenn beim Umsteigen ein paar Minuten abfielen, um in den Büchern zu schmökern. Die Zeit war wirklich kurz bemessen, was jeder versteht, der täglich drei Stunden für seinen Arbeitsweg benötigt, die nächste Bahn wollte ich nicht verpassen. So gewöhnte ich es mir an, zunächst ein interessantes Buch herauszufinden, dann zu sichten und wenn meine Entscheidung gefallen war, beim letzten Anlauf das Buch zu kaufen. Ich schnappte das Auserkorene und ging schnurstracks zur Kasse, möglichst schon mit passend abgezähltem Geld. Eine kleine schwarz-weiße Papiertüte mit roter, schwungvoller Aufschrift begleitete dann meine Heimfahrt nach Mahlsdorf und das Erworbene wurde unterwegs ausgiebig betrachtet.
Bald platzten meine kleinen Bücherregale aus den Nähten, ein neuer Schrank musste her und füllte sich mit Kunstführern über Klee, Klimt und Picasso, Gartenführern und Krimis. Unglaublich stolz bin ich auf sechs verschiedene Interieurbücher vom Kolon-Verlag, die ich zu sage und schreibe je drei Euro erwarb, in den „City Apartments“, den „Weekend Homes“ und den „Beach Houses“ interessieren mich vor allem die darin gezeigten Bilder mit Malerei.
Eines Tages entdeckte ich einen Neuzugang – Die Blumenmalerinnen. Fünfzehn Damen wurden vorgestellt, die ihr Leben der Blumenmalerei widmeten, mindestens ebenso leidenschaftlich wie ich in Bezug auf Malerei, wesentlich erfolgreicher, wenn auch nicht im entsprechenden Maße bekannt. Maria Sibylla Merian, die Tochter des Kupferstechers und Verlegers Matthäus Merian, Rachel Ruysch, Fiona Strickland und Beate Sellin zum Beispiel überzeugen darin allesamt mit überaus schönen, jede aber auf ganz eigene Weise besonderen Pflanzen-, Blumen- oder Blütenbildern. Ich war fasziniert, aber das Buch kostete vierzig Euro. Vierzig Euro! Ich würde es mir nicht leisten können, denn eine Markise für unsere Sonnenterasse war seit Jahren überfällig. Trotzdem schaute ich jeden Tag bei den Blumenmalerinnen vorbei, schwankend zwischen der Hoffnung, der Preis könne fallen und der Befürchtung, dass andere Käufer das Geld in das begehrte Buch investierten. Schließlich wurden nur ganze drei Exemplare, davon ein Ansichtsexemplar, angeboten. Meiner Kollegin schwärmte ich ständig von dem wundervollen Buch vor und was soll ich euch sagen: zu meinem Geburtstag schenkten mir die Kollegen einen Jokers-Gutschein über 20 Euro. Nun musste ich nur noch 20 Euro drauf legen und das gute Stück war meins. So kam es am folgenden Tag zu dem feierlichen Kauf und das gewichtige Exemplar wurde so vorsichtig es ging nach Hause transportiert und erhielt eine Ehrenplatz in meiner Kunstbibliothek. Sehr oft schaue ich mir abends die fantastischen Malereien an und lese über die wagemutigen Frauen und ihre spannenden Leben.
Noch ein paar Wochen ging es wie im Rausch weiter. Fast jede Woche kaufte ich mir ein Buch nach dem bewährten Muster. Die neu Angeschafften erhielten einen Platz in der zweiten Etage meines Hauses.
Eines schönen Feierabends stand ich beim Jokers vor verschlossener Tür. Was war hier los? Warum ließ sich die Tür nicht öffnen zu meinem Himmelsreich? Ein liebloser Zettel verkündete, dass die Filiale ab sofort geschlossen wäre. Empörung durchflutete mich, wieso geschlossen? Das lief doch hier wie im Länderspiel. Nochmals rüttelte ich an der Tür. Im Internet fand ich einen Protest der Angestellten, die ohne Not einfach entlassen wurden. Auch sie verstanden die Welt nicht. Mir tat es leid für die Angestellten und mindestens genauso leid tat es mir um die Bücher, die ich dort nicht mehr vorfinden würde, nicht mehr begehren könnte, nicht mehr besitzen und genießen könnte. Wie froh war ich, die „Blumenmalerinnen“ noch rechtzeitig erworben zu haben und immer werden sie mich an eine sehr glückliche Zeit meines Lebens erinnern.
Sylvia Mielecke März 2018