Blondes Gift
Seit einiger Zeit waren mir die zwei blonden Damen durch ein äußerst merkwürdiges Verhalten aufgefallen. Wenn ich morgens zur Arbeit nach Berlin reinfuhr, kreuzten sich unsere Wege am S-Bahnhof M. Eine der beiden und zwar die Ältere, stand bereits an der ganz rechten Eingangstür, während ich noch meine Runde über den ganz in der Nähe befindlichen Blumenladen drehte.
Maximal 1,5 Meter groß und knapp zwei Zentner schwer, so lehnte sie neben der Tür und checkte ihr Mobiltelefon. Die langen blonden Haare, schon von einigen grauen Strähnen durchzogen, waren meist zu einem dicken Seitenzopf geflochten, manchmal zu einem tief hängenden Pferdeschwanz. Einen Pony gab es nicht, was dem rundlichen Gesicht etwas Strenge verlieh. Die ziemlich helle Haut war von Sommersprossen übersät, blaugraue von weißen Wimpern umrahmte Augen schauten etwas widerwillig auf die vorbei Eilenden. Die Bekleidung war einfach und sportlich, die Schuhe immer flach, wie für eine Wanderung ausgewählt.
Die jüngere Blondine hatte einige Ähnlichkeiten mit der Älteren, nur trennten sie circa 25 Jahre, vermutlich handelte es sich um Mutter und Tochter. Um einige Pfund leichter, kleidete sie sich ähnlich der Älteren. Täglich trug sie einen strengen Pferdeschwanz, alle Haare aus dem Gesicht entfernt, welches ungeschminkt und blass wie das der Mutter war.
Wenn ich auf dem Bahnsteig meinen Platz eingenommen hatte, kam kurz darauf die Ältere und bezog in ca. drei Meter links von mir Aufstellung. Ich bevorzugte genau diese Stelle, um beim Umsteigen auf dem Bahnhof F. keine Zeit zu verlieren, denn dort begann die Rolltreppe zur U-Bahn.
Nun sah ich die S-Bahn einfahren, gleichzeitig stürmte die Jüngere über den Bahnsteig auf uns zu und drängelte sich beim Halt des Zuges zwischen den Wartenden hindurch, genau vor die S-Bahn-Tür. Wie ein Nationalpark-Ranger stand sie mit gespreizten Beinen und angewinkelten Armen vor der Tür, die olivgrünen Cargo-Hosen saßen straff auf den angespannten Oberschenkeln und dem Gesäß, der Pferdeschwanz wippte noch einmal kurz und sie schien bereit für einen Kampf mit einem imaginären Gegner. Als der Öffnungsknopf aufleuchtete, drückte sie diesen kurz entschlossen und stapfte mit kurzen, kräftigen Schritten auf das bereits anvisierte Ziel zu; zwei nebeneinander befindliche Sitze. Sie schwang sich auf den einen und im gleichen Moment sauste ihr Rucksack auf den anderen nieder. Die Mutter folgte in einigem Abstand inmitten des Menschengewühls, nun wurde der Rucksack entfernt und die Ältere nahm dort Platz. Zufrieden, wie nach einem gewonnenen Match, richteten sich beide in ihren Plätzen ein, während der Zug sich in Bewegung setzte.
Täglich war dieses Schauspiel zu beobachten. Die Ältere erwartete die Jüngere, welche im letzten Moment aufkreuzte, die Tür okkupierte und eine Sitzbank für zwei besetzte.
Nach ein paar Wochen war ich es leid und wechselte in einen anderen Waggon, aus dem Augenwinkel die immer gleiche Szenerie beobachtend.
Sylvia Mielecke