Ferien auf dem Lande

Unsere sommerlichen Schulferien verbrachten wir drei Geschwister oftmals auf dem Lande, ca. 100 km vor den Toren Berlins, bei unserer Oma väterlicherseits.

Oma wohnte damals am Marktplatz, in einer kleinen Mietwohnung im 1. Stock eines Bauernhauses. Hinter das scharlachrot getünchte Haus schloss sich der Hof mit gackernden Hühnern und stolzen Hähnen sowie einer Wasserpumpe, die Scheune mit geheimnisvollem Heuboden voller Spinnweben und ein verwunschener Garten mit wild wuchernden Pflanzen an. Das alles gehörte dem hoch betagten, fast tauben Herrn Thiele, der ein eingefrorenes Lächeln auf dem Gesicht trug.

Omas Wohnzimmer lag zum Marktplatz mit seinem Katzenkopfpflaster; der Blick auf den gegenüber liegenden Bäckerladen, die Drogerie und die Arztpraxis wurde von den Kronen alter Lindenbäume unterbrochen. Die Blätter konnten wir fast mit den Händen berühren. Aus Angst vor zu großer Hitze im Wohnzimmer zog Oma am liebsten alle Übergardinen zu, so dass sich im Zimmer eine seltsame, gedämpfte Stimmung entfaltete, unterstrichen durch den Duft von Sommerblumen, vorzugsweise Nelken, die in rosa Glasvasen auf dem Tisch und dem Stubenschrank arrangiert waren.

Eine kleine, stämmige Person, auf etwas krummen Beinen, graues, krauses, meist straff aus dem Gesicht gebundenes Haar, ein prüfender Blick aus himmelblauen Augen oberhalb der immer geröteten Wangen und mit leichter Hakennase, so kannten wir unsere Oma seit jeher, eine Ähnlichkeit mit Miss Marple war sicher rein zufällig.

Oma Frieda war so ganz anders als die „Berliner Oma“ und die Besuche bei ihr waren nicht die reine Freude. Oma lebte allein und das tat sie, solange wir sie kannten. Irgendwann in ihrer Jugendzeit war das mal ganz anders, denn außer unserem Vater gab es noch eine Tante Marie, die ca. 2 Jahre jüngere Schwester unseres Vaters und Tante Evelin. Evelin war nur knapp 10 Jahre älter als meine Schwester und ich, so dass sie für uns einfach „Evi“ war. Als unsere Oma bereits unter der Erde lag, erfuhr ich erst, dass jedes ihrer drei Kinder einen anderen Vater hatte. Und das kam so:

Als junges Mädchen musste unsere Oma, die in einer kinderreichen Familie aufgewachsen war „in Stellung“ gehen und in einem Hotel in der nächst gelegenen Stadt arbeiten.

Dem Hoteldirektor, einem gut aussehenden, gebildeten Herrn mittleren Alters gefiel das junge Mädchen, besonders deren Humor und dieses fühlte sich einsam in der fremden Stadt. Aber als sie schwanger war, musste sie das Haus verlassen und allein zu Hause ihr Kind – unseren Vater – zur Welt bringen. Um die Schande wieder gut zu machen, beschloss ihre Familie die zwangsweise Verheiratung mit einem Mann aus dem Dorf. Schnell war Oma wieder schwanger, mit Tante Marie, aber die Ehe hielt nicht, denn ihr Gatte sprach sehr dem Alkohol zu. In voll trunkenem Zustand reagierte er sich gern an unserer Oma und den mittlerweile zwei Kindern ab. Oma blieb nichts anderes übrig, als sich scheiden zu lassen.

Etwa 10 Jahre später ist sie dann noch mal schwach geworden gegenüber einem Mann, aber Heiraten kam nicht in Frage, so dass Evi als uneheliches Kind aufwuchs.

Oma selbst war zu diesem Thema überhaupt nicht auskunftsbereit; wenn wir Kinder sie mal wieder ausquetschen wollten, setzte sie ihr Mona-Lisa-Lächeln auf und wir erfuhren gar nichts.

Eine Ausbildung konnte Oma bei diesem bewegten Lebenslauf nie absolvieren, so dass sie sich ein Leben lang mit schlecht bezahlter Arbeit durchschlagen musste.

Gerne erinnere ich mich an die kurze Zeit, als Oma Frieda Platzanweiserin im Dorfkino war.

Manchmal besuchten wir Kinder sie bei der Arbeit und durften heimlich die gerade laufenden Filme anschauen. In der Dunkelheit des Kinosaals genossen wir aufgeregt die schönen Filme.

Später arbeitete sie als Beiköchin in der Schulküche, was sie mit Leib und Seele tat.

Oma Frieda, derart abgehärtet vom Leben, versuchte nun in der Ferienzeit bei ihren Enkeln ein strenges Regime durchzusetzen.

Mit der Hilfe im Haushalt und Garten, zu denen solche Sachen wie Wassereimer schleppen und „Manscheimer“ runterbringen, zählten, konnten wir ganz gut leben.

Auch bei gemeinsamen Spaziergängen im Ort sowie gelegentlichen Besuchen älterer Damen aus der Nachbarschaft drückten wir ein Auge zu. Mehr oder weniger unwillig kamen wir der Forderung nach, jeden, aber auch wirklich jeden, auf der Straße zu grüßen. Wir widersetzten uns jedoch, täglich einen Mittagsschlaf abzuhalten.

Uns kam sehr entgegen, dass Oma über Mittag in die Schulküche radelte, so dass wir den verordneten Mittagsschlaf regelmäßig boykottierten. Wir lasen, hörten Radio oder erzählten uns Witze. Kurz vor Omas Rückkehr brachten wir unsere Haare in Unordnung und zerwühlten die Kissen.

Omas Grinsen nach ihrem Eintritt in die Wohnung und einem Rundblick der Adleraugen, denen nichts verborgen blieb, sehe ich noch heute vor mir und bezweifle, dass sie uns den Mittagsschlaf abgenommen hat.

Ab und zu entbrannte ein Streit mit Oma, wobei es um solche Fragen ging, wer zuerst böse war, was genau gesagt wurde und wer die anderen Geschwister zu Blödsinn angestiftet hat. Wir konnten uns in der Regel nicht einigen, so dass das Thema, wenn die Eltern uns abholten, noch mal aufgenommen wurde. Dabei verteidigte jede Seite hartnäckig ihre Variante. Bis zum nächsten Sommer war zum Glück das Meiste vergessen, so dass wir zumindest bereit waren, die Oma wieder zu besuchen.

Man kann sagen, Oma bemühte sich nach Kräften, uns zu verwöhnen und nutzte die Ferienzeit, uns Stadtkinder aufzupäppeln. Beim Bäcker Lehmann holte sie schon vor dem Aufstehen die Brötchen und Knüppel für das Frühstück. Für das Mittagessen wurde frisch gekocht, oft Eintopf, manchmal Fleischgerichte, wobei das Gemüse und die Kartoffeln größtenteils von Omas kleinem Acker stammten.

Oma forderte uns x-mal auf, nochmals zuzugreifen. Aber wir waren schnell satt und weigerten uns dann hartnäckig, noch mehr in uns reinzustopfen.

Es gab täglich zur Kaffezeit selbst gebackenen Kuchen, manchmal auch Amerikaner aus dem Bäckerladen, wenn ihr Portmonee das erlaubte.

Gingen wir in den hinter der Scheune liegenden Garten, pflückte sie blitzschnell ein paar Himbeeren von den riesigen Sträuchern des Herrn Thiele und stopfte uns diese in den Mund. Das wollten wir zwar nicht, aber Oma war nicht zu bremsen.

Natürlich spielten wir vorwiegend draußen an der frischen Luft, entweder auf dem Hof, im großen, schattigen Tordurchgang oder vor dem Haus, direkt am Marktplatz. Manchmal waren wir bei Kindern aus der weiteren Verwandtschaft zum Spielen.

Ab und zu durften wir Omas Nachbarn, die alten Kants besuchen, beide ehemals Lehrer, sie hatte u.a. Nadelarbeit unterrichtet. Wenn wir es an ihren vielen Katzen vorbei geschafft und am großen Tisch Platz genommen hatten, bastelten wir schöne Geschenke für die Eltern oder für Oma.

Als unser Bruder etwas älter war, wurde Oma ab und zu ein Opfer seiner kuriosen Ideen. In Omas Wohnung gab es kein fließendes Wasser und kein WC. Das Herz-Häuschen befand sich mitten auf dem Hof des Anwesens, besser gesagt zwei Stück nebeneinander, gleich neben dem Misthaufen. Das rechte war für Herrn Thiele bestimmt, das linke durften Oma und ihre Wohnungsnachbarn, Herr und Frau Kant benutzen. Das stille Örtchen, eine Bretterbude, war von innen zu verschließen, indem ein Türhaken in eine Öse des Türrahmens zu fädeln war. Eines Tages, als Oma über Mittag arbeiten war, verschloss unser Bruder von außen mit Hilfe eines Drahtes das linke Häuschen. Als Oma zu Hause eintraf, wollte sie zunächst das Örtchen besuchen, was jedoch verschlossen war. Nach fünf Minuten probierte sie es noch einmal und kam schimpfend zurück, was der olle Kant solange auf dem Klo mache. Unser Bruder war schon recht erheitert und als Oma nach dem nächsten erfolglosen Versuch wütend zurückkehrte, roch sie Lunte. Unser Bruder konnte nicht mehr an sich halten und schüttelte sich vor Lachen. Nun war er ertappt und musste flugs das zugesperrte Häuschen unter wüsten Beschimpfungen und vor Omas Augen wieder öffnen.

Richtig peinlich wurde es für Oma, als sie einmal das Vergnügen hatte, unseren Bruder mit dem Zug nach Berlin zurück zu bringen. Sie las gerne mal das „Magazin“, ein monatlich erscheinendes, begehrtes Journal, in der jeweils eine als ästhetisch und künstlerisch wertvoll zu bezeichnende Aktaufnahme enthalten war. Unser Bruder präparierte das aktuelle Magazin mit etwa 10 Aktfotos früherer Ausgaben, die er lose einlegte. Als Oma es sich so richtig gemütlich machen wollte und das Magazin zum Lesen aufschlug, fielen die ganzen Aktbilder auf den Boden des Abteils. Vor den Augen der süffisant lächelnden Mitreisenden sammelte Oma, puterrot und hektisch die Nackedeifotos wieder ein. Dieser Vorfall wurde zu Hause gleich ausgewertet, aber außer Oma konnte keiner so richtig ernst bleiben.

Unsere Oma besaß nie in ihrem Leben ein Telefon und wenn die Sehnsucht zu groß war, ging sie zur Post und rief uns von dort aus an. Jedes Mal fragte sie, wann die Familie oder wir Kinder sie wieder besuchen würden.

Wir Kinder amüsierten uns sehr über das Tablett voller Arzneimittel; haufenweise Tabletten, Pillendosen, Gläschen mit Dragees in allen Farben und Ampullen mit Flüssigkeiten, welches immer einen Platz auf dem Nachtschränkchen neben Omas Bett einnahm, auch wenn sie uns in Berlin besuchte. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass jemand so viel Medizin benötigt. Später verstand ich erst, dass die Einsamkeit unserer Oma der Grund für den Medizin-Kult war.

Als sie im hohen Alter, an Demenz erkrankt, uns nicht mehr erkannte, ging die Erinnerung an unsere Streiche verloren und gleichzeitig an all das Schwere und Traurige in ihrem Leben.

Den Duft von Nelken oder blühenden Linden verbinde ich noch heute mit diesen besonderen Ferien bei Oma Frieda.

 

Sylvia Mielecke 2014

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert